Der Eremit - Eine Geschichte
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Der Eremit – Eine Lebensbetrachtung
In den stillen Höhen der Berge, fernab von Lärm und Hast, lebte ein alter Mann in einer kleinen Höhle. Sein Bart war weiß wie Schnee, seine Augen klar wie ein Bergsee, und sein Herz ruhig wie der Wind, der durch die Felsen strich. Er war einst vieles gewesen: Kind, Rebell, Liebender, Vater, Freund und Feind. Doch all das lag hinter ihm, wie Spuren im Sand, die die Wellen der Zeit fortgetragen hatten.
Jetzt war er nur noch ein Mensch, der seine letzte Sehnsucht stillen wollte: die Sehnsucht, eins zu sein. Eins mit Gott, eins mit allem, was war und sein wird.
Morgens saß er am Eingang seiner Höhle und betrachtete die Welt, als wäre sie ein altes, geliebtes Buch. Er sah die Sonne auf- und abends sah er sie untergehen, lauschte dem Ruf der Vögel und roch den Duft der Blumen, der in der Morgenluft schwebte. Früher hätte er die Blumen gepflückt, um sie zu besitzen – heute wusste er, dass ihr wahrer Wert in ihrem wachsen und blühen lag.
Manchmal kamen Menschen zu ihm. Sie erklommen die steilen Pfade, durchquerten Täler und Flüsse, nur um an seinen Füßen zu sitzen und Antworten zu suchen. Sie nannten ihn einen Weisen, einen Erleuchteten, und hofften auf Worte, die ihr Leben verändern würden.
Doch der Eremit schwieg oft. Denn was hätte er sagen sollen?
Er wusste, dass die Wahrheit nicht in Worten zu finden war, sondern in der Stille zwischen den Gedanken. Und dass die Suche nach Gott sinnlos war, wenn man ihn nicht zuerst in sich selbst erkannte.
Als er jung war, hatte er anders gedacht. Er hatte nach Ruhm und Reichtum gestrebt, nach Macht und Kontrolle. Er wollte das Leben besitzen, die Liebe festhalten, die Zeit anhalten. Doch je mehr er griff, desto weniger blieb ihm.
Das Leben lehrte ihn, immer und immer wieder neu und anders, erst als das Leben ihn lehrte loszulassen – als er alles verlor, was ihm einst wichtig war – fand er, wonach er sich gesehnt hatte: Frieden.
Und so lebte er in der Stille, in der Gegenwart Gottes. Jeder Atemzug war ein Gebet, jeder Schritt ein Tanz, jede Blume eine Offenbarung. Wenn der Wind durch die Bäume rauschte, hörte er darin die Stimme der Schöpfung. Wenn er auf einem Felsen saß, spürte er den Herzschlag der Erde.
Doch eine Erinnerung blieb. Eine Frau, die mehr war als nur ein Mensch. Sie war Liebe in ihrer reinsten Form. In ihren Armen hatte er sich selbst vergessen, war eins geworden mit dem Universum. Sie war gegangen, aber nie wirklich fort. Ihr Gesicht sah er im Mond, ihre Stimme hörte er im Wind, ihre Berührung spürte er, wenn die Sonne sein Gesicht wärmte.
Eines Abends, als die Sonne langsam im Meer versank und der Himmel in Flammen stand, schloss der alte Mann die Augen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, und sein Atem wurde langsam und still.
Er war bereit.
Der Zyklus war vollendet. Sein kleines Leben tauchte ein in den Ozean des großen Lebens, das immer auf uns wartet. Er war allein – und doch eins mit allem, was ist und nicht ist.
Und in der Stille der Berge, in der Ewigkeit des Universums, blieb nichts zurück als der sanfte Hauch eines letzen Atemzugs